Das Haus [Beobachtungen aus der Ferne]


Julia Zipfel
@julia__zi

Ein Poem über das Zusammenleben fremder Menschen in einem großen Wohnhaus,das von meinem Balkon aus zu sehen ist. Der Text handelt von meinen Gedanken undBeobachtungen zur Koexistenz sich unbekannter Personen im selben Gebäudekomplexund fragt aus der Ferne, wie es sich innerhalb der selben Mauern und zwischenAnonymität und Intimität leben lässt. Drei Fotos, die ich von meinem Balkon ausgeknipst habe, sind beigefügt. Sie zeigen Ausschnitte des Gebäudes


Koexistenz, die
Zusammenleben von mehreren Organismen oder Arten im gleichen Lebensraum, ohne dass es zur gegenseitgen Verdrängung (Konkurrenzausschluss) kommt.
(gefunden im world wide web, Lexikon der Geographie)



Das Haus [Beobachtungen aus der Ferne]


Wenn ich aus meinem Fenster schaue, sehe ich es, das Haus,
Wie es sich bäumt, sich auflehnt, gegen Straßenlärm, weiß und groß im Gegenwind,
So steht es da, zuverlässig, mit seinen vielen dutzend Fensteraugenhöhlen,
und blitzt manchmal, wenn die Sonne eins der aufgeklappten Glaslider streift,
blitzt zu mir herüber, fernes Zwinkern, fast, als wüsste es von meinen leisen Blicken.

Genau vor mir steht es, das Haus, wenn ich auf meinem Balkon weile,
hinten raus, dort wohnt es, eingerahmt, nicht vorne, nicht zur Straße hin,
dort wurzelt es, und jährt und atmet, standhaft, fast beschützend, in bleichem Gewand,
so nehme ich es wahr, das Haus, und beruhigend auch, das weiße.

Manchmal lächelt es, manchmal winkt es, grüßt mich, haushoch, unbemerkt,
mit Gießkannenarmen, mit Sonnenuntergangsselfies, ab und an ein Schrei, nur pantomimisch,
und salutiert mit Frühjahrsputz, mit Grillzangen, die eifrig nach den Wolken greifen.




Ich mag das Haus, ich schaue es mir gerne an, alleine, aus behutsamer Distanz,
und frage mich, wie es wohl drinnen aussieht, dort im Häuserbauch, vor mir verborgen,
sehe nur die Haut, ganz rau, nach Creme lechzend, durstg, von den Stürmen ungekämmt,
sehe nur die vielen Galerien, wie sie die hellen Wände rahmen,
wie sie die Fenster zieren, schmale Streifen Mauervorsprung, außen an das Haus geklebt,
für den kleinen Rundgang frische Luft, die letzte Kippe vor der Schlafenszeit,
ein Auffangbecken für die Tränen, die unhörbaren Schrittes aus den Fensteraugen stolpern.

Ich beobachte das Haus, beim öffnen seiner Lider, wenn sich Gardinen an die Seite schieben,
wenn Wind geraume Zeit in Wohnungsschlunde weht, eindringlich, heimlich,
stelle ich mir vor, wie es wohl riecht, das Haus, und was es sieht und was es fühlt,
und ob es kitzelt, wenn Silhouetten mit blanken Sohlen durch die Flure tappeln?
Und wer sie sind, und wer sie einmal werden wollen, die Schemen in den Häuserzellen.

Und ob es denn nicht schwierig ist, mit vielen in derselben Haut zu wohnen?,
frage ich mich auch, dann wenn ich mit den Blicken deine gleisenden Konturen streichle, Haus.

Du hast es gut, denke ich, von meinen sehnsuchtsvollen Augen aufgesucht,
du hast es gut, Haus, du trägst in dir nicht ein Herz, sondern viele,
bündelst Fremde, schaffst Gemeinsamkeit, und Wärme, hinter Fensteraugen,
und ich, ich wandle in Gedanken deine vielen Ebenen, die Gänge, deine Arme, lange Venenkorridore,
denke an die Zwischenmenschen, wie sie zwischen deinen Türen hin und her leben,
in deiner schützenden Umarmung, immer fest gehalten, immer windgeschützt und meistens warm.

So nah, so Wand an Wand, so Haut an Haut, ein Korpus, viele Korpora,
Koexistenz, klammheimlich und konstant, die Umrisse, schattenhaft, umher huschend,
Zuflucht auf Zeit, und weg wollen, aus deinem Klötzebauch,
und nachher doch bleiben, weil so schön wasserdicht, so wetterfest, so gut fundiert,
und kantige Wege durch deinen Brustkorb schlagen sie ein, die Figurinen,
zaghafte Zusammenkunft im Unbekannten,
Interaktion? Intimität?
so nah, so anonym,
wer sind sie, Haus,
vertraust du es mir an?