Kollaborative Quartiersentwicklung: das Demokratiecafé


Robert Jende
demokratiecafe.de



Kollaborative Quartiersentwicklung: das Demokratiecafé

Ich habe eine These, die ich bereits lang mit mir herumtrage, die sich allerdings nicht beweisen, wohl aber plausibel machen lässt. Das dominante Kommunikationsmedium einer Gesellschaft beeinflusst maßgeblich, in welcher Form der Herrschaft sich eine Gesellschaft organisiert (vgl. Baecker 2007). Politik hängt auch davon ab, wie und womit Menschen miteinander kommunizieren. So war das gesprochene Wort, der Diskurs auf dem Marktplatz in der griechischen Polis die Quelle der antiken Demokratie. Es wurde gesprochen, gestritten und entschieden – wenn auch längst nicht von allen. Die erste Demokratie war eine mündliche Kultur. Mit dem Aufkommen der Schrift übernahm das Wort Gottes über Schriftgelehrte, mit dem Monarchen an oberster Stelle, die Alleinherrschaft. Das Lesen und Schreiben war nur wenigen Menschen vorbehalten, sodass Herrschaft im Medium der Schrift eine exklusive Angelegenheit war. Mit dem Buchdruck wurde das niedergeschriebene Wissen verbreitet und vergleichbar. Der Buchdruck war die Bedingung für eine repräsentative Demokratie. Immer mehr Menschen lernten lesen, unterschiedliche Konzepte konnten miteinander in den Wettstreit treten, die Teilhabe an der Debatte wurde demokratisiert. Das Parteibuch war erfunden und die Leute ordneten sich verschiedenen Interessengruppen zu.

Heute leben wir in einer Zeit, in der das Internet, das Netzwerk, zum dominanten Kommunikationsmedium geworden ist. The Medium is the Massage.

„Der elektrische Schaltkreis verbindet die Menschen miteinander. Information strömt ohne Zeitverzögerung auf uns ein. Jede neue Information wird sofort durch eine noch neuere ersetzt. (…) Wir können nicht mehr seriell vorgehen, Stein auf Stein, Schritt für Schritt, denn instantane Kommunikation führt dazu, dass alle Faktoren der Umwelt und der Erfahrung in einem aktiven Wechselspiel zusammenwirken.“ (McLuhan 2011, S. 63)

Wenn die These stimmt, dass ein Kommunikationsmedium einen entsprechenden Regierungstypus nach sich zieht, dann passen repräsentative Demokratie und dominante Kommunikationskultur nicht mehr zueinander. Die Zeit der großen Volksparteien ist längst vorüber. Die lauter gewordene Polarisierung hallt aus allerlei Echokammern. Die Gesinnungsnetzwerke organisieren sich in ihren Bubbles und rufen zum gegenseitigen Feldzug auf. Die Rechthaberei über das richtige Leben im falschen geht in einer Kakophonie unterschiedlich gestimmter Netzwerke auf. Was, wenn das alles Symptome eines eklatanten Mismatches von dominantem Kommunikationsmedium und Regierungsform ist, wenn eine repräsentative Demokratie nicht mehr in unsere Zeit passt? Was, wenn Parteien nur spalten, anstatt zusammenzuführen, wenn sie das Problem der Demokratie sind und nicht Teil der Lösung? Dann braucht die Demokratie ein Update und die Form in der sie in einer Welt der Netzwerke in Erscheinung tritt ist eine kollaborative: die kollaborative Demokratie (vgl. Rohr 2013).

In einer kollaborativen Demokratie finden Menschen auf kurzem Wege zueinander und gestalten ihre geteilten Lebensräume proaktiv und kokreativ. In kleineren Einheiten, etwa im Dorf, in der Nachbarschaft oder im Quartier findet Gesellschaftsgestaltung einen lokalen Bezug und einen partizipativen Rahmen des gemeinsamen, aufeinander bezogenen Tuns. Politisches Handeln wird in der Kultur der Netzwerke nicht mehr an einen großflächigen bürokratischen Regelapparat mit professionellem Personal delegiert, sondern auf möglichst viele Schultern verteilt. Das Wort co-laborare bedeutet mit- bzw. zusammenarbeiten. Jascha Rohr definiert die Kollaboration als „Zusammenarbeit, die organisiert wird, um Probleme besser zu lösen, Ideen schneller zu finden und Austausch und Beziehungen generell zu fördern“ (Rohr 2013, S. 31). Die Netzwerke spiegeln sich als politische Kollektive in der analogen Welt wider und gehen kleinteilig die Probleme vor der eigenen Haustür an (vgl. Beck, Jende 2022). Bis es soweit ist, zeigt sich das bestehende politische System mit aller Macht und es ist mit vielen Rückschlägen und Enttäuschungen zu rechnen.

Damit die Menschen auf lokaler Ebene zueinander finden und gemeinsame Ideen für ein gelingendes Zusammenleben entwickeln, braucht es zahlreiche dezentrale Treffpunkte und Versammlungsorte. Im Forschungsprojekt „RePair Democracy“ haben Gerald Beck und ich an der Hochschule München das Demokratiecafé entwickelt, welches von der Idee der Repair Cafés geleitet ist. Anstelle eines defekten Alltagsgegenstandes bringt man ins Demokratiecafé ein Anliegen aus seinem Quartier, der Kommune oder seiner Nachbarschaft mit. Was möchte ich ändern? Was können wir angehen? Aus den einzelnen Anliegen werden gemeinsame Vorhaben und Projekte entwickelt, die in einem nächsten Schritt an bestehende Institutionen kommunaler Politiken und Verwaltungen angedockt werden. Es entsteht ein kollaboratives Netzwerk rund um die Anliegen und den daraus angebahnten Projekten.

Ein Demokratiecafé ist ein Veranstaltungsformat, das zwischen drei und vier Stunden andauert. Es kann etwa ein Mal pro Monat an einem bestimmten Ort stattfinden, so dass zwischen den Versammlungsterminen genügend Zeit ist, um an den Projekten weiterzuarbeiten. Regelmäßig sollte es jedoch sein, um sich bei den damit erreichten Leuten zu verankern und weitere zu gewinnen. So wie es vielleicht in einigen Jahren wieder normal sein wird, defekte Dinge zu reparieren, ist es vielleicht in einigen Jahrzehnten normal, sich in kleinen lokalen Einheiten zu versammeln und gemeinsame Lösungen für geteilte Probleme zu finden. Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird dort hergestellt, wo die Menschen wohnen, wo sie ihren Alltag verbringen, wo sie Zuhause sind. Mit Hannah Arendt (2002) gesprochen: „Nur in einem Miteinander, das nahe genug ist, um die Möglichkeit des Handelns ständig offen zu halten, kann Macht entstehen.“

Ein Demokratiecafé kann überall da veranstaltet werden, wo sich Leute ohnehin zusammenfinden: in Bibliotheken, Nachbarschaftstreffs, Dorfkneipen, Kulturzentren, auf dem Straßenfest, in Gemeindehäusern, Selbsthilfezentren u.v.m. Soziolog:innen haben das „Dritte Orte“ – The Great Good Place (Oldenburg 1989) – genannt, also öffentliche und gemeinschaftlich genutzte Räume ohne Konsumzwang. Ohne Geld ausgeben zu müssen und ohne Leistungszwang geht es auch im Demokratiecafé zu. Es gibt Kaffee und Kuchen oder abends ein Buffet, welches entweder vom Ort der Veranstaltung organisiert oder von den Gästen mitgebracht wird. Gesellschaftliche Teilhabe an der Mitgestaltung des Lebensraumes darf keine ökonomische Frage sein.

Zu Beginn des Demokratiecafés gibt es erstmal ausreichend Zeit anzukommen, sich am Buffet zu bedienen und bei aufheiternder Hintergrundmusik ein Plätzchen zu finden. Auf eine gute Atmosphäre wird besonders großen Wert gelegt, denn gesellschaftliche Teilhabe und politische Aktivität sollen angenehm sein. Die Form gibt den Inhalt vor: Wie soll ein Zusammenleben am Ende gelingen, wenn der Weg dorthin eine ganze Menge Ärger, Spaltung und Missgunst verursacht? Nach dem Ankommen lernen sich die Gäste erst einmal spielerisch kennen und schlüpfen in die Haut ihres unbekannten Gegenübers und stellen sich dann gegenseitig einer anderen Zweiergruppe vor und umgekehrt. Danach bilden sich Achtergruppen, die Stimmung ist bereits gelockert. Von da aus geht es zum Einsammeln der Anliegen aus dem eigenen Lebensumfeld und der Findung umgreifender Themen, die sich für Kleingruppenarbeiten eignen. Es bilden sich Gruppen, die zunächst ihre Anliegen nochmal reihum befragen, vertiefen und schärfen. Von da aus wird ein gemeinsames Vorhaben formuliert und ein Projekt entwickelt. Hier sind wir schon mittendrin in einem kollaborativen Prozess. Einen ausführlichen Ablauf und alles was ihr wissen müsst, findet ihr auf der Webseite zum Netzwerk Demokratiecafés: www.demokratiecafe.de.

Nun stellt euch vor, es gibt diesen Ort der lokalen Kokreation überall, wo sich Ko-Existenz in gemeinschaftlicher Zusammenarbeit entwickelt (vgl. Rohr 2023). Das kann und sollte in Zukunft auch nicht-menschliche Akteure miteinschließen, aber das ist nochmal ein eigenes Thema. Zunächst müssen wir die passende Herrschaftsform für die Kommunikation in Netzwerken finden, etablieren, einüben und kultivieren.



Werdet Teil des Netzwerks Demokratiecafés und Pioniere einer kollaborativen Demokratie! Dann meldet euch bei mir, um ein eigenen Demokratiecafé an den Start zu bringen: robert.jende@anstiftung.de oder info@demokratiecafe.de  





Literatur

Hannah Arendt (2002): Vita activa oder Vom tätigen Leben. Piper.

Dirk Baecker (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. Suhrkamp.

Gerald Beck & Robert Jende (2022): Vor der eigenen Haustür ‚caren‘. Politik der Nachhaltigkeit im Paradigma des Terrestrischen. In: SUN Soziologie und Nachhaltigkeit, 8. Jg., Heft 1, 86-105. (https://www.uni-muenster.de/Ejournals/index.php/sun/article/view/4310)

Marshall McLuhan (2011): Das Medium ist die Massage. Tropen.

Ray Oldenburg (1989): The Great Good Place. Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and other Hangouts at the Heart Community. Marlowe & Company.

Jascha Rohr (2013): In unserer Macht. Aufbruch in die kollaborative Demokratie. thinkOya.

Jascha Rohr (2023): Die große Kokreation. Eine Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen. Murmann.

Weitere Medien

Andrea Baier / Tom Hansing / Christa Müller / Karin Werner (Hg.): Die Welt reparieren. Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis. Transcript.

https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3377-1/die-welt-reparieren/

Robert Jende: RePair Democracy: Gemeinsam Gesellschaft gestalten (Vortrag)

https://www.youtube.com/watch?v=EmR-httIyfo