Staub, politisier mich!


Oleg Zurmühlen
@olegzurmuehlen
August 2022. 20 Menschen (genannt: Commonauten nach "Commons" und "Astronauten") zusammengeschlossen im Kollektiv @heykompost radeln gemeinsam durch Nordhessen von Marburg nach Kassel. Ziel: Emanzipatorisch-solidarische Formen von Gemeinschaft im ländlichen Raum finden.
Für: Eine gemeinsame Ausstellung auf der Documenta fifteen. Mein Gepäck: Stift und Notizbuch und ganz viel Aufmerksamkeit für Wegegelagertes. So entstand im Nachgang eine Lyriksammlung, aus meinen Notizbuchinhalten, die bisher unveröffentlicht blieb.
Die Lyriksammlung ist nach den Rad-Etappen chronologisch strukturiert. Sie spiegelt Fragen wieder, die während der Radtour aufkamen, in Gesprächen, Kaffeekränzchen, Dorfrundgängen, einem Bistro- und einem Synagogen-Besuch.





Biking Commonauts Travel the Rhizome, //Kompost Ensemble
Oleg Zurmühlen



Staub, politisier mich!
Wegegelagertes zwischen Marburg und Kassel, Stadt und Land, jung und alt
zwischen Dorfgeschehen und Documenta Fifteen

26. August bis 03. September 2022

Der Auftrag
Sich fragen, was da im Land liegt
und Sätze daraus bilden
zum Wegelagerer werden
und Wegegelagertes finden
Sätze als Fragen zurücktragen
und so nie ganz verschwinden

Etappe 1: Marburg – Dannenrod

Körpertemperatur I
Ich habe Gruppentemperatur
ein bisschen über 36 Grad
leicht fiebrig ohne Fieber zu haben
Mir hilft es im Fluss zu baden
mich auf Individualtemperatur zu bringen
Ich spüre meinen Körper wieder
fühle wie sich etwas zentriert
und allein am Fluss sitzen will
wohltemperiert
Es sitzt nun
Es, das auf Libellen stiert


Sedimente I
Sie nehmen Raum ein
ohne sich zu regen
in beeindruckenden Quantitäten
Ablagerungen des Lebens
Sie schwemmen an
mit Gezeiten
die menschliche Züge haben
        Augen die besitzen
        Finger die sich trennen
Dinge die Entscheidungen tragen
Brauche ich sie
        oder nicht?
Leben sie weiter
        ohne mich?
Sie leben
        und tragen
Zurück und voran
        Schritt für Schritt
eine Zukunft


Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen:
Wegnuss I
Es sind nur die Eingeweihten, die die Plätze der Pilze kennen und sie teilen sie
selten gerne:
Hat schon jemand einen Pilz gesehen?
Nein, es ist zu trocken.

Welcher ist der Lieblingspilz der Eingeweihten?
Der Flockenstielige Hexen-Röhrling.
                                            Er steht meist allein
                                            und wechselt seine Farbe von Purpur zu Blau,
                                            wenn er aufgeschnitten wird.
Die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Tischgebetzwischenfrage I
Menschen, die sich einander beim Hausbau helfen, weil sie Hilfe brauchen,
setzen sich an einen gemeinsamen Tisch, wenn sie Pausen machen.
Menschen, die sich nicht mehr beim Hausbau helfen, weil sie keine Hilfe brauchen,
setzen sich an getrennte Tische, dort die die zahlen, hier die die bauen.
                     Lehrt uns Krise Gemeinschaft oder gibt es noch zu viele, die haben?


Ländliche Logikvorlesung I
Fütterst du ein Pferd mit einem Apfel, entsteht ein Pferdeapfel.


Gedichtlücke I: Kreuzung
Steinbruch
Wald
Acker
Drei Zugänge zu Welt, die sich an Fahrradwegen kreuzen
Was macht der Weg hindurch mit uns?



Etappe 2: Dannenrod – Willingshausen

Körpertemperatur II
Ich bekomme Hitzewallungen
die an klammem Schweiß bauen
Windaugen, die auf meinen Kopf schauen
zeigen sich kalt und stechend
Ich friere heiß
Mir hilft es die Decke zu tauschen
eine Gabe aus dem Umsonstladen
Es liegt nun
Es, das Gemeinschaft lauscht

Sedimente II
Weil niemand mehr Tiere hält
kehrt niemand mehr Straßen
also staubt es im Dorf
Was wird der Staub uns sagen,
wenn wir ihn nach seinen Raumzeitschichten fragen?
Welche Ablagerungen freigeben,
die uns Geschichten von Wandel und Verlust erzählen?
Staub im Dorf ist politisch
Staub, politisier mich!

Gedichtlücke II: Zusammen(Kaffee)klatschen
Grenzen, Kategorien
Vereine und Strukturen
bei Kaffee und Kuchen
wie lassen sich
Wandel und Tradition
zusammenrufen?

Topologie des Salzekuchens
KartoffelnQuarkSaureSahneZwiebelnKümmelSpeck          KaffeeKaffeeKaffee
TeigTeigTeigTeigTeigTeigTeigTeigTeigTeigTeigTeig            KaffeeKaffeeKaffee
TellerTellerTellerTellerTellerTellerTellerTellerTeller             TasseTasseTasseTa
TischTischTischTischTischTischTischTischTischTischTischTischTischTischTisch

Typologie der Salzekuchen-konfrontierten Mikrobiota
DasWarAberEinSchweresEssenJetztBrauchenWirEinenSchnaps

Tischgebetzwischenfrage II
Die Schwelmer Stickerei stirbt aus. Die letzten gestickten Trachten werden vererbt,
müssen auf die Leiber neuer Generationen geschneidert werden, ihre Grenzen
verlassen, neue Formen finden und doch die Schwelmer Gesticktheit behalten.
Liegt in diesen formwandelnden Grenzregionen der Treffpunkt der Generationen?

Gedichtlücke III: Zugezogen
Eine zugezogene Hornisse
stößt gegen die Lichtquelle
mitten im Konfliktgetriebe
und hält Menschen eine Leuchtstoffröhre
Warum können Zugezogene
Nicht einfach dazugehören?

Gedichtlücke IV: Beigefreit
Glas zerbricht Gespräche
die Scherben sammeln
wie Scheidungsrichter
Beigefreite
bleiben beigefreit
für immer
Ländliche Logikvorlesung II
Schweine machen Mist.
Fliegen mögen Mist.
Schwalben mögen Fliegen.
Schwalben machen Mist.
Ämter mögen keine Schwalben.
Fliegen dürfen bleiben.

Topologie des Weckewerks
ResteFleischKnorpelWeckeResteFettSehneReste
FleischResteWeckeResteMuskelWeckeFettReste
BrüheBrüheBrüheBrüheBrüheBrüheBrüheBrühe

Typologie der Weckewerk-konfrontierten Mikrobiota
DasWarAberEinResteverwertenJetztBrauchenWirEinenSchnaps




Etappe 3: Willingshausen – Borken – Homberg (Efze) - Felsberg

Tischgebetzwischenfrage III (mit Antwort)
Was erzählt dir ein kurdisches Café im nordhessischen Borken mit 600 Jahre alten
Säulen?
Eine Familiengeschichte.

Gedichtlücke V: Schuttgefühle
Es tut weh
sich zu positionieren
auf spitzen Steinen
unbequeme Wärme

Tischgebetzwischenfrage IV
Wenn Zugezogene das Ordnungsamt schmieren, was stört dann noch die Ruhe im
Dorf?
Sind es immer noch die Baustellen und spielende Kinder, die Schlagersongs und
kläffenden Köter?
Oder endlich auch die Machtgefälle und Alltagsrassismen, die Marktmechanismen
und Kolonialgeschichten?

Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen:
Wegnuss II
Wenn sich die Lebensumstände ändern, gehen Menschen jüdischen Glaubens
baden.
          Worin?
                    In lebendigem Wasser.
Lebendig ist nur Quellwasser, Regenwasser und Grundwasser.
In einem Ritualbad, Mikwe, müssen mindestens sieben Stufen ins lebendige
Wasser führen.
In einem Privatgarten eines nicht-jüdischen Eigentümers in Felsberg führen sieben
Stufen einer alten Mikwe ins
Nichts.

Die Zeit kehrt zurück in die Schale.




Etappe 4: Homberg (Efze) – Waldkappe

Sedimente III
Harmonie ist tückisch
so aufgehäuft und angeschwemmt
Sie ist das Hundegebell
das Antisemitismus übertönt
Desharmoniert euch
Konfrontiert euch
Seid unangenehmen
und bringt die Hunde zu Bett

Körpertemperatur III
Häufig ist in der Gründungsgeschichte viel enthalten:
Super heißer Tag, das Haus war schön kühl von innen.
Topologie des Suppenkessels
SchnippelnRührenKochenStrukturiertFühlenTeilenWillkommenheißen
RitualRitualRitualRitualRitualRitualRitualRitualRitualRitualRitualSuppeRi
ZeitZeitZeitZeitZeitZeitZeitZeitZeitZeitZeitZeitZeitVierStundenSamstag
BrüheBrüheBrüheBrüheBrüheBrüheBrüheBrüheBrüheBrüheBrüheBrü
KochstelleKochstelleKochstelleKochstelleKochstelleKochstelleKochst

Typologie der Suppenkessel-konfrontierten Mikrobiota
DasWarAberEineEhrlicheHalbdurchlässigeMembranJetztBrauchenWirEinenTeilun
gsprozess

Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen:

Wegnuss III
Bea, geboren in den 1980ern, ist aufgewachsen in Waldkappel. Dey erzählt, von
zwischenmenschlichen Verbindungen, die sich dort seit deren Kindheit verloren
hätten. War der Zusammenhalt in den 90er Jahren durch Nachbarschaftshilfe,
blühende Vereine und Theatergruppen noch groß, sind heute nur Feuerwehr und
Sportverein geblieben. Gab es in den 90er Jahren noch mindestens eine ganze
Schulklasse nur mit Kindern aus Waldkappel, lässt das Dorf heute während der
Sommerferien eins vermissen: Kinderlachen.
Waldkappel, so Bea, suche heute seine Identität: Schlafstadt oder Ort, wo gelebt
wird.

Die Zeit kehrt zurück in die Schale.


Etappe 5: Waldkappel – Kassel

Gedichtlücke VI: Tischdecken beackern
Flecken verankern
um Zungen zu lockern
die über neue Welten lecken
Gemeinsam zueinander hindenken
darf schmecken
und rau sein
wie Geschmacksknospen

Gesammelte gesellschaftspolitische Aphorismen (unklare Autorschaft)
I Alle Berge, die wir runterfahren, müssen wir auch wieder hoch. (...)
II In der Nacht fließt da kein Wasser. (...)
III Es ist alles gesagt worden, was mache ich dann noch hier. (...)
IV Kunst ist ja nicht unpolitisch, aber distanziert. (...)
V Das eine Rad ist nicht so musikalisch wie das andere. (...)

Sedimente IV
Im Zukunftsdorf in der Stadt
schnappen Füchse nach Füßen
                    Landattrappen
Sie essen sich an Zukunft satt
eine Küche für Alle hungrigen
                    Gemeinschaffen
Wo machen hier Dörfer Stadt?
oder beißt sich hier der Fuchs
                    Landattrappen
nur in den eigenen Schwanz?
Eine Zeltstadt und Tanzfläche
                    Gemeinschaffen
Bedeutet es Leben zu lenken
oder frei zu lassen?

Tischgebetzwischenfrage V
Wenn wir über Gemeinschaftsprozesse reden, benutzen wir Textilmetaphern.
Wir verweben, vernetzen, verstricken und verknüpfen.
Bleibt da noch Raum für Widersprüche und ungelöste Konflikte?
Kann unser Webstuhl auch gerissene Enden weben und Konflikte Konflikte sein
lassen?
Wie bringen wir das zur Sprache?


Etappe 6: Von mir – zu dir

Die Abgabe des Auftrags
Eine Antwort schält sich
aus dem Dazwischen
         der Körpertemperaturen, Sedimente, Topologien und Typologien,
         Tischgebetzwischenfragen, Wegnüsse und Logikvorlesungen,
         Gedichtlücken und gesellschaftspolitischen Aphorismen
dort sind Raumzeitfugen in Stadtlandkarten
und in den Fugen der Staub
der neue Fragen in sich trägt
Trag ihn weiter
        und ruf aus: Staub, politisier mich!